„Ich war zu spät“ – Die letzten Stunden meines Sohnes aus der Sicht seiner Frau

„Manchmal bleiben uns nur die Worte, um das Unfassbare zu fassen.“

 

„Ich war zu spät“ – Die letzten Stunden meines Sohnes aus der Sicht seiner Frau


Es ist schwer, über diesen Tag zu schreiben. Noch schwerer ist es, darüber zu sprechen. Doch ich möchte seine Geschichte nicht verschweigen – nicht das, was war, nicht das, was für immer bleibt.
Meine Schwiegertochter hat mir erzählt, wie sie meinen Sohn gefunden hat. Wie sie diesen Moment, diesen Albtraum, erlebt hat. Es sind ihre Worte, ihre Erinnerungen – aber auch meine Tränen, mein Schmerz. Ich versuche, das wiederzugeben, was sie mir anvertraut hat.
Weil das Schweigen manchmal noch schmerzhafter ist als die Wahrheit.


Der Tag, der alles veränderte

Sie kam nach der Arbeit nach Hause. Unsere Enkelin war an diesem Abend bei einer Freundin zum Übernachten. Die Wohnung war still. Auf dem Küchentisch lagen zwei Zettel – sie klangen nach Abschied.

Noch während sie las, hörte sie merkwürdige Geräusche aus dem Badezimmer. Ein ungutes Gefühl überkam sie. Als sie die Tür öffnete, fand sie ihren Mann – meinen Sohn.

Sofort rief sie die Rettung und begann verzweifelt, ihm zu helfen. Wenige Minuten später trafen die Sanitäter ein, kämpften um sein Leben.
Sie rief einen engen Freund an, sie konnte in dieser Situation nicht allein sein. Ihre Verzweiflung entlud sich auf der Straße. Sie schrie, weinte, zitterte. Eine Nachbarin kam, nahm sie schweigend in den Arm.

Inmitten dieses Schocks rief sie mich an. Ich hörte es in ihrer Stimme – diese Ohnmacht, die Verzweiflung, den Schmerz.

Bald kamen ihre Mutter und weitere Freunde. Sie standen ihr bei, versuchten sie zu halten, während sie wieder und wieder sagte:
„Er schafft das nicht... er schafft das nicht...“

Die Polizei war inzwischen da, um ihre Ermittlungen auf zu nehmen.

Meine Schwiegertochter wurde befragt- sie stand immer noch unter Schock und antwortet mit Schuldgefühlen.
„Ich bin zu spät gekommen... Ich hätte früher da sein müssen... Dann wäre es nicht passiert.“

Immer wider wiederholte sie diese Worte.

Diese Gedanken kreisten wie ein Strudel in ihrem Kopf. Hoffnung und Verzweiflung spiegelten sich in ihrem Gesicht.
Dann – nach einer gefühlten Ewigkeit – verließen die Sanitäter das Haus.
Sie sah ihre Gesichter. Und sie wusste:
Er hat es nicht geschafft.


Die Welt bricht zusammen

Gedanken rasten durch ihren Kopf. Warum? Warum hat er das getan? Warum war sie nicht eher da?
Wie soll es nun weitergehen – für sie, für ihre Tochter, ohne ihn?

Die Kripo stellte weitere Fragen. Alles lief wie in einem Film, in dem man nur Zuschauer ist.

Dann kam ihr zweiter Anruf – der Anruf, der mein Herz zerriss und mich in den Abgrund stürzte.

Kurze Zeit später traf der Bestatter ein.
Und sie wusste: Wenn sie jetzt nicht noch einmal in die Wohnung geht, wird sie ihren Mann nie wiedersehen.

Mit zitternden Knien, aber voller Liebe und Mut ging sie zusammen mit ihrer Mutter zurück.

Dort lag er. Ihr Mann. Mein Sohn.
Es war ein unerträglicher Anblick, welchen sie nie vergessen wird.

Sie wusste:
Sie wird ihn nie wieder im Arm halten.
Nie wieder seine Stimme hören.
Nie wieder gemeinsam Pläne schmieden oder lachen - er ist für immer fort.

In diesem Moment brach ihre Welt zusammen. Und auch meine.
Ein Leben, das nie wieder so sein wird wie vorher.
Ein Verlust, für den es keine Worte, keinen Trost gibt.


Ein paar Worte zum Schluss:

Ich habe lange gebraucht, um diesen Text zu schreiben. Ich konnte und wollte nur eine Kurzfassung von dem Geschehenen  nieder schreiben, um mich, meine Schwiegertochter und die Privatsphäre meines Sohnes zu schützen.

Vielleicht liest ihn jemand, der Ähnliches erlebt hat. Vielleicht auch jemand, der verstehen möchte.
Ich weiß nicht, wie man mit so einem Verlust lebt – ich weiß nur, dass man es irgendwie muss.
Dass man weiteratmet, obwohl die Luft fehlt.
Dass man geht, obwohl der Boden weg ist.

Ich habe keine Antworten.
Aber ich habe Erinnerungen.
Und ich habe die Liebe zu meinem Sohn, die über den Tod hinaus bleibt.