In der Stille des Waldes

                                                                                                                                                                                                                                                                  " Für dich war es Erlösung, für mich war es der größte Verlust.

Für dich war es Gnade, für mich der größte Schmerz.

Für dich ist es Frieden, für mich ist es die Hölle.

Ein Leben ohne dich, ist das was mich zerbricht."


Es gibt Orte, an denen der Schmerz etwas leiser wird – nicht weil er vergeht, sondern weil ihn die Natur für einen Moment mitträgt.
Ein solcher Ort ist die Ruhestätte im Wald, wo mein Sohn seinen letzten Platz gefunden hat.

Nicht hinter Steinmauern oder unter kaltem Beton, sondern unter hohen Bäumen, wo das Licht durch die Blätter tanzt
und der Wind Geschichten flüstert.

Dieser Weg dorthin war der schwerste meines Lebens.
Und doch spüre ich, dass es der Ort ist, der ihm gerecht wird – ein Ort der Freiheit, der Stille, der Natur.


Nach dem Tag, an dem mein Sohn von uns ging, blieben wir noch einige Zeit bei seiner Frau und seiner kleinen Tochter. Es gab viele Formalitäten zu erledigen, bei denen ich meiner Schwiegertochter zur Seite stand.

Ein besonders schweres Thema für uns alle war natürlich die Beerdigung. So schmerzhaft es auch war, versuchten wir gemeinsam herauszufinden, was sich mein Sohn wohl gewünscht hätte.

Eines war mir sofort klar: ein klassisches Urnengrab auf einem Friedhof, eingezwängt zwischen Steinreihen, das wäre nicht richtig gewesen für ihn.

Also machten wir uns auf die Suche nach Alternativen – und stießen im Internet auf einen Waldfriedhof, ganz in der Nähe der Familienwohnung.

Wir sahen uns die Bilder des Waldes an und informierten uns über die verschiedenen Möglichkeiten der Bestattung dort.

Schnell waren wir uns einig: Das sollte "Sein" Ort werden. In der Natur.

Er wollte frei sein – frei von Zwängen, frei von Vorschriften.

Und was könnte besser seine Freiheit symbolisieren als ein Platz inmitten der Bäume, im Lichtspiel der Blätter, getragen vom Wind?

Die nächste Hürde war dann das Gespräch mit dem Bestattungsinstitut.

Schon am Telefon begegnete man uns mit viel Mitgefühl, sodass wir uns für den nächsten Tag zu einem persönlichen Termin verabredeten.

Ich erinnere mich nicht mehr an jedes Detail dieses Gesprächs, aber ich glaube, dass der Chef des Bestattungsinstituts persönlich zu uns kam.

Ich fühlte mich gefasst – äußerlich ruhig, doch in mir tobte eine Unruhe, die ich kaum zu bändigen wusste. Ich funktionierte einfach.

Wir sprachen über die einzelnen Punkte der Bestattung in der „Ruhestätte Natur Herten-Westerholt“.
https://www.ruhestaette-natur.de/

Am liebsten hätte ich meinen Sohn mit nach Hause genommen – nach Bayern.
Doch ich wusste, dass dieser Ort für seine kleine Tochter wichtig war.
Ein Ort, an dem sie ihren Papa besuchen kann.
Ein Platz, wo sie mit ihm reden, ihm Blumen bringen kann.

Sein Grab sollte für sie erreichbar sein – und damit lebendig bleiben in ihrem Herzen.
Das Wohl meiner Enkeltochter war in diesem Moment wichtiger als mein eigener Wunsch.

Mit dem Bestatter besprachen wir auch den Termin der Aufbahrung –der letzte Abschied.
Die letzte Möglichkeit, ihn zu sehen, ihn zu berühren, seine Wange zu streicheln, ihm Worte zu sagen, die unausgesprochen geblieben waren.

Diese Stunden habe ich in einem eigenen Beitrag sehr ausführlich beschrieben, denn sie waren einzigartig.
Unvergesslich, für immer eingebrannt ins Herz.

Während des Gesprächs stockte mir mehrmals die Stimme.
Mir schnürte sich der Hals zu.
Ich bekam kaum einen Ton heraus und kämpfte mit den Tränen.

Aber ich schluckte alles herunter.
Ich wollte stark sein – für mich, für meine Schwiegertochter, für unsere kleine Enkeltochter.

Als schließlich alle offenen Fragen zur Beisetzung geklärt waren, verabschiedete sich der Bestatter.
Doch das Thema war damit nicht abgeschlossen.

Was sollte nach der Beisetzung geschehen?
Wollten wir im engsten Kreis einfach auseinandergehen?

Für mich war klar: Ich wollte danach nur mit meinem Mann allein sein.
Ich wollte diesen Tag in Stille hinter mir lassen –den Gedanken nicht länger ertragen müssen, meinen Sohn endgültig zurückzulassen.

Aber meiner Schwiegertochter reichte das nicht.
Sie wünschte sich, mit Freunden von ihrem Mann zusammenzukommen, gemeinsam zu trauern, Erinnerungen zu teilen.

Ich war hin- und hergerissen.
Für mich bedeutete das Zusammensitzen nach der Beisetzung nur zusätzlichen Schmerz, den ich kaum mehr tragen konnte.
Doch ich wollte ihren Wunsch nicht ablehnen, stimmte zu und überließ ich ihr die Planung.
Sie organisierte ein Treffen mit den engsten Freunden ihres Mannes.

Eine Woche nach dem Gespräch wurde mein Sohn vorbereitet –für den endgültigen Abschied.

Und zwei Wochen später kam der Tag der Beisetzung.
Wieder fuhren wir diese vielen Kilometer –zurück in das Zuhause meines Sohnes.

Wir trafen uns mit engsten Familienangehörigen, Freunden und Bekannten vor dem Eingang der Ruhestätte, um gemeinsam Abschied zu nehmen.

Der Bestatter kam und führte uns schweigend zum Andachtsplatz, mitten im Wald.

Trotz all des Schmerzes – dieser Platz war mit viel Liebe hergerichtet. Die Sonnenstrahlen fielen durch die hohen Bäume und tauchten den Ort in ein besonderes Licht.

Ein fast friedlicher Moment, der von der Natur selbst getragen wurde.

Doch ich konnte ihn nicht wahrnehmen. Nicht wirklich.

Für mich war der Schmerz während der Gedenkrede so überwältigend, dass ich das Schöne um mich herum kaum sehen konnte. Meine Augen waren gefüllt mit Tränen – Tränen, die ich schon tausendfach um mein Kind geweint hatte.

Dann begann mein schwerster Weg.

Ein Weg, den keine Mutter je gehen möchte.

Die Trauergemeinschaft folgte dem Bestatter, der die Urne trug.

Ich wollte nicht glauben, dass darin mein Sohn war.
Diese Worte auszusprechen, fällt mir noch immer schwer.

Wir erreichten schließlich den Ort, an dem Thomas seine letzte Ruhe finden sollte.

Meine Gedanken konnten der Realität nicht folgen.

Wie sollte ich ihn dort zurücklassen?
So weit weg von mir?

Die letzten Wochen waren nur noch von Abschieden geprägt –
Abschied von seinem Lachen, seiner Stimme, seinem Wesen.
Abschied von allem, was nie wieder sein wird.
Und Abschied von einem Ort, der nicht meiner war –
obwohl ich ihn so gerne bei mir, in meiner Nähe gehabt hätte.

Wo soll ich jetzt mit ihm sprechen?
Wo darf ich trauern, weinen, ihm nah sein?

Viele sagen: dein Sohn ist nicht mehr dort. Seine Seele ist woanders.
Aber ich brauche einen Platz.
Einen Ort, der mir Halt gibt, wenn alles in mir zusammenbricht.

In unserem Garten haben mein Mann und ich einen Platz für mein Kind geschaffen –

ein weißer Stein, an ihm eine Gedenktafel mit Bild und Text, neben einem kleinem Gingobaum,

umringt von Blumenstauden und kleinen Ahornbäumchen.

Vielleicht, eines Tages, kann ich diesen Ort als meinen Platz mit ihm akzeptieren.
Vielleicht wird es ein Stück Nähe, das mir Frieden schenkt.

Nach der Zeremonie begaben wir uns zu dem anschließenden Trauerzusammensein.

Ich wusste, dass ich mich dort nicht wohlfühlen würde – und genau so war es auch.

Ich fühlte mich mit meiner Trauer, mit meinem Schmerz, unter den Anwesenden allein.
Ich wollte keine tröstenden Worte hören.
Ich konnte die Erinnerungen an Thomas nicht ertragen –
nicht das Lachen, nicht die Geschichten.

Mein Kind hat sich das Leben genommen.
Und mit ihm ist ein Teil von mir gestorben.

Ich kann im Moment keine schönen Erinnerungen zulassen.
Alles in mir ist Schmerz.
Mein ganzer Körper fühlt diesen Verlust – jede Zelle.

Noch immer kann ich nicht wirklich trauern.
Wie soll ich trauern, wenn ich noch immer darauf warte,
dass er  jeden Moment zur Tür hereinkommt?

Es werden noch viele Wochen, Monate und Jahre vergehen.
Viele Stunden in der Therapie liegen noch vor mir.

Vielleicht werde ich irgendwann beginnen,
den Verlust zu begreifen – und meine Trauer zuzulassen.

Aber der Weg dorthin ist lang.
Schmerzvoll.
Kräftezehrend.

Und doch weiß ich:
Es ist wichtig, weiterzugehen.

Ich muss das Geschehene bewusst verarbeiten.

Vielleicht wird es ein lebenslanger Prozess.
Vielleicht wird der Schmerz nie verschwinden.

Aber ich werde lernen, mit ihm zu leben.
Und ihn mitzunehmen – als Teil meines Weges.


Vielleicht kann ich die Stille des Waldes

eines Tages mit meiner eigenen füllen.

Vielleicht finde ich dort – oder in unserem Garten,
zwischen den Blumen, –
einen Platz, an dem ich mit ihm sprechen kann.

mein jüngster Sohn ist gegangen.
Aber in der Stille, die bleibt,
klingt noch immer seine Nähe.