Was bleibt, ist die Liebe – Gedanken einer Mutter

Meine Familie ist mein Anker – mein Mann und meine beiden Söhne. Sie geben mir Halt, auch wenn ich manchmal glaube, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Doch in der Dunkelheit der Trauer wirkt alles verschwommen. Als mein jüngster Sohn im Oktober`21 durch Suizid aus dem Leben ging, war der Schmerz so überwältigend, dass ich kaum noch etwas anderes wahrnehmen konnte. Der Verlust hat alles überlagert – Gedanken, Gefühle, selbst das, was mir am wichtigsten ist.

Meine beiden Söhne waren in dieser Zeit wie in weiter Ferne. Ich spürte sie kaum noch, konnte ihre Nähe nicht greifen – nicht, weil sie nicht da waren, sondern weil der Schmerz mich blind gemacht hat. Doch auch sie tragen diesen Verlust. Auch sie trauern um ihren kleinen Bruder – jeder auf seine ganz eigene Weise. Ich habe mich oft gefragt, wie unser gemeinsamer Weg jetzt weitergehen kann. Ob wir uns als Familie durch diesen Verlust näherkommen? Ob wir ihn gemeinsam tragen können?

Es sind so viele Fragen. So viele Hoffnungen.

Und dann gibt es diese Sätze von außen: „Sei dankbar, du hast ja noch zwei Kinder.“ Ich weiß, dass solche Worte nicht aus Bosheit gesprochen werden. Aber sie tun weh. Denn sie zeigen, dass viele Menschen nicht begreifen, was ein solcher Verlust bedeutet. Wer so etwas sagt, hat vermutlich nie erlebt, wie es sich anfühlt, sein Kind zu verlieren – schon gar nicht durch Suizid. Es gibt keine „Trostkinder“. Kein Ersatz. Kein „wenigstens“.

Ich liebe alle meine drei Jungs. Jeder von ihnen ist einzigartig. Keiner ist austauschbar.

Der Schmerz, ein Kind zu verlieren, ist unbeschreiblich. Er reißt Wunden, die niemals ganz heilen. Der Tag, an dem ich mein Kind verloren habe, wird für immer eingebrannt bleiben – bis meine Augen sich eines Tages schließen.

Aber trotz all dem Schmerz, weiß ich eines ganz sicher: Ich möchte für meine beiden Söhne da sein. Ich will versuchen, wieder für sie sichtbar zu werden. Denn sie sind ein Teil meines Herzens – genauso wie ihr Bruder es immer sein wird.

Mein jüngster Sohn hat nicht nur mich und seine Brüder zurückgelassen, sondern auch seine Frau und seine kleine Tochter. Für sie hat sich das Leben an jenem Tag ebenso schlagartig verändert. Plötzlich standen sie ohne Partner, ohne Papa da – mussten lernen, irgendwie weiterzumachen.

Trotz der räumlichen Entfernung war der Kontakt zwischen uns immer stark. Mein Sohn hatte viel Wert darauf gelegt, dass wir verbunden bleiben – ich war  „Oma Bayern“. Unsere Videoanrufe waren oft voller Wärme, Nähe und Lachen. Ich habe mich mit meiner Schwiegertochter gut verstanden und die kleine Maus, meine Enkeltochter, ist mir sehr ans Herz gewachsen.

Dann war er nicht mehr da -

Und mit ihm drohte auch etwas anderes zu verschwinden: das Band, das uns alle miteinander verbunden hatte. Anfangs wurde mir versichert, dass sich nichts ändern würde, dass wir den Kontakt genauso weiterführen würden wie bisher – genau das, was ich mir von Herzen wünschte. Doch mit der Zeit kamen Zweifel in mir auf. Die Entfernung erschien plötzlich riesig. Ich fragte mich, ob meine Enkelin mich weiterhin vermissen würde. Oder ob ich langsam aus ihrem Leben verschwinden würde.

Diese Ängste wuchsen, obwohl der Kontakt bestehen blieb. Ich konnte mich ihnen nicht entziehen. In meinem Kopf kreisten Gedanken wie: Was, wenn meine Schwiegertochter einen neuen Partner findet? Wird er mich akzeptieren? Werde ich dann noch Teil ihres Lebens sein?

Diese Verlustängste zogen sich durch mein Leben – sie betrafen irgendwann alles und jeden. Auch meinen Mann. Jeden Morgen, wenn er zur Arbeit fuhr, schlich sich Panik in mein Herz. Ich sah ihm nach, schloss die Tür doppelt ab, konnte erst aufatmen, wenn ich eine Nachricht erhielt: „Ich bin gut angekommen.“ Jedes Martinshorn, jedes Blaulicht ließ mein Herz rasen. Ich hatte Angst, ihn auch noch zu verlieren.

Rückblickend haben sich meine schlimmsten Befürchtungen nicht bewahrheitet. Mein Mann kam immer gesund zurück und der Kontakt zu meiner Schwiegertochter und Enkelin ist noch immer da – warm, ehrlich, nah. Und ich freue mich jedes Mal, wenn wir telefonieren oder uns sehen.

Dennoch, die Angst hat sich tief in mir verankert. Vor Kurzem erlebte ich wieder so einen Moment: Ich schickte meinem mittleren Sohn eine Nachricht, doch sie kam nicht an. Kurze Zeit später rief mich mein ältester Sohn an – und sofort schnürte mir die Angst die Kehle zu. Mein Herz stach. Was, wenn er mir Schlimmes sagen muss? Ist etwas mit seinem Bruder passiert, ein weiterer Sohn....Meine Gedanken schossen in sekundenschnelle durch mein Kopf.  Der Anruf- er wollte einfach nur mit mir sprechen. Als ich ihm von meinem inneren Sturm erzählte, reagierte er mit Verständnis. Auch meinem anderen Sohn gegenüber konnte ich mich öffnen. Und in diesen Gesprächen merkte ich: Wir sind uns näher als je zuvor.

Der tragische Verlust meines Jüngsten hat unsere Familie verändert – für immer. Nichts wird mehr so sein wie vorher. Aber wir haben auch zueinandergefunden. Der Kontakt zu meinen beiden Söhnen ist tiefer geworden. Der Schmerz hat uns wieder näher zusammengebracht. Und gemeinsam tragen wir diesen Verlust – als Familie.

Mein Herz wird immer drei Söhne lieben. Auch wenn einer von ihnen nicht mehr an meiner Seite geht, wird er immer ein Teil von mir sein. Ich bin unendlich stolz auf alle drei meiner Kinder. 

Und ich weiß: Inmitten der Dunkelheit gibt es auch Lichtblicke.

Lichtblicke- die Liebe heißt.

Die Liebe zu meinem Mann, meinen Kindern, meinen drei Enkelkindern und unsere Tina.